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Erfahrungsbericht aus Israel/Palästina von Heidi Meinzolt, Februar 2008

(dieser Bericht als pdf)

Natürlich ist dieser Bericht keine umfassende Analyse der Situation in Nahost, noch hat er den Anspruch, objektiv zu sein oder allen gerecht zu werden. Es ist das, was sich mir in 1 Woche, dank der Kontakte und der engagierten Begleitung der Frauen aus der israelischen und palästinensischen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit eröffnet hat.

Kleines Tagebuch:
2.2. Ankunft in Tel Aviv – einer lebendigen, dem Mittelmeer zugewandten westlichen Stadt; erstes Abendtreffen mit Frauen der israelischen Sektion (Jüdinnen und Araberinnen); zu Gast bei Alix Weizmann

3.2. Mit Aliyah in der Altstadt Tel Avivs; dort Besprechungstermin mit Jörn Böhme dem Leiter des Böllbüros. Anschließend Fahrt nach Jaffa, das südlich an Tel Aviv anschließt. Dort Führungen durch eine Stadt mit gemischter Bevölkerung, Problemen von Umsiedlungen, Hauszerstörungen, politischen Differenzen; Treffen mit einer israelisch-palästinensischen Jugendorganisation und Flüchtlingen aus Afrika (über Ägypten).

4.2.     Fahrt mit Daphne, Aliyah, Taghrid, u.a. über Beet Shaaba in die Negevwüste zu "illegalen" Beduinendörfern; viele Informationen über das Leben, die Tragik und die Geschichte der Beduinen. In der nahen Stadt Dimona gab es ein Selbstmordattentat. Rückfahrt über Hebron – grauenhafte Siedlergeschichten!

5.2.    Fahrt zu Checkpoints, Mauern, eingeschlossenen Städten (Nablus) in der Westbank, abends mit dem Bus nach Jerusalem, Treffen mit Hanan

6.2. mit Hanan nach Ramallah und Al-Bireh: an Arafats Grab, im Rathaus von Al-Bireh (mit Nahriman Al Far – Stadträtin), Tour zu politischen Brennpunkten in und rund um die Stadt, Besuch in einem Flüchtlingslager, abends in der lebendigen Stadt Ramallah mit vielen politischen Diskussionen.

7.2. mit Hanan nach Hebron. Mit Maisom von der palästinensischen Sektion in Hebron und Umgebung (Jalla, Dura) von der anderen Seite her gesehen und erlebt, außerdem mit einer Parlamentarierin des PNC geredet, ein Flüchtlingslager besucht, ein Krankenhaus, an Checkpoints aufgehalten und viel Elend!…

8.2. zur Erholung: ein weitgehend touristischer Tag in der Altstadt von Jerusalem (und Ölberg, Garten Gethsemane, Klagemauer, Bazar…); dort auch noch ein Gespräch mit Christian Sterzing, dem Leiter des Böllbüros in Ramallah.

9.2. Treffen mit Vertreterinnen der beiden Sektionen, Vereinbarungen in puncto Nahostkoordination; danach mit den Israelinnen zu einer Gedenkfeier für ein von israelischen Soldaten erschossenes Mädchen und zum Flughafen.


"Nur wer verwirrt nach Hause fährt, hat etwas verstanden" gab mir Christian Sterzing vom Böllbüro in Ramallah am Schluss mit. Und Recht hat er. Es brodelt in einem, wenn man die eklatanten überall unübersehbaren Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Palästinensern erlebt, ihre Armut und Entrechtung durch die Besatzungspolitik, die Willkür mit der sie kujoniert werden (und oft ist gerade das natürlich politische Absicht!), und dagegen die Militarisierung der israelischen Gesellschaft, ihre Ignoranz, Selbstgerechtigkeit und "Sicherheitspanik", die mit völlig unadäquaten unverhältnismäßigen Maßnahmen gekontert wird.

Und dann gibt es wieder so viel Schönes in diesem Land: Natur, Farben, wunderbaren Humus und Falafel, Kultur, nachdenkliche engagierte Menschen voller Geduld, Wärme, Lebenslust (und Überlebenswille) auf allen Seiten.
Daneben eine ins Perverse verdrehte Religiosität um Blut, Boden, Gräber, Werte und Geschichtsauslegungen voller Widersprüche für die die Politik herhält und mit der militante Siedler ihre eigenen Gesetze machen.
Wenn man nach einem Tag in Hebron am Abend in Jerusalem die orthodoxen Juden mit ihren freudigen schnellen Schritten, ihren Schläfenlocken und Hüten zur Klagemauer oder in die Synagoge laufen sieht, fühlt man sich irgendwie ohnmächtig und schlecht mit seinen ganzen Friedensideen im Kopf.

Startpunkt meiner Erkundungstour war Tel Aviv, eine moderne rein jüdische Stadt. Man lebt sein Leben, amüsiert sich und hat nicht viel Verbindungen zu dem was in anderen Teilen des Landes und in den besetzten Gebieten abgeht. Knessetdiskussionen und die Medienlandschaft (mit Ausnahme vielleicht Haaretz und den letzten mutigen JournalistInnen, die den Finger in die Wunden der israelischen Gesellschaft und Politik legen) zeichnen ein klares Freund-Feind-Bild. Der Zwangsmilitärdienst (3 Jahre für junge Männer und danach Reservedienst und 2 Jahre für Mädchen obligatorisch – kaum jemand verweigert sich, denn die Folgen sind beachtlich; die arabischen Israelis dienen nicht, daher sind sie in vielen Dingen benachteiligt: Wohnung, Ausbildung, Verdienst…) bringt zusätzlich eine gehörige Portion Gehirnwäsche mit sich.

Warum geht nichts voran in Richtung friedlicher Lösungen? "Der Konflikt ist nicht zu lösen" heißt es allenthalben, es gibt nur Annäherungen an ein Konfliktmanagement (siehe auch Berghofstiftung) und diese werden völlig unterschiedlich interpretiert. Es kann kein Verhandeln auf Augenhöhe geben im Sinne von "wenn du aufhörst Raketen zu schicken, dann rede ich wieder mit dir über einen Rückzug". Dazu ist die Ausgangslage viel zu unterschiedlich und die Dimension des Leidens nicht vergleichbar. Oder sollte man es fatalistisch mit dieser Aussage halten: "die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, aber man tut gut daran, sie da liegen zu lassen". Letztendlich hat auch die, u.a. von der Liga, (immer noch) geforderte 2-Staatenlösung eigentlich einen jüdischen-demokratischen Staat auf der einen Seite und einen einheitlichen Palästinenserstaat mit echtem Hoheitsgebiet im Auge, aber zur Zeit ist weder das eine noch das andere abzusehen, noch überhaupt eine Entscheidung in Sichtweite. Also (Anmerkung von Jörn Böhme, Tel Aviv) eine Shakespearelösung (am Ende sind alle tot) oder doch eher Tschechow (überleben in der Katastrophe)?

Station Jaffa:
Die Stadt hat (noch) eine gemischte Besiedlung und ist daher ein Stachel im Fleisch der jüdischen Stadt Tel Aviv. Jaffa ist 4000 Jahre alt, war einst ein bedeutender Mittelmeerhafen, von dem aus Güter (Orangen!) verschickt wurden und Pilger fürs Heilige Land landeten. Sie hat schon viel Eroberung, Zerstörung miterlebt. Jetzt ist die Altstadt von ihrer Bevölkerung geräumt und für Künstler (überwiegend arrivierte jüdische Künstler) und Touristen hergerichtet worden. Die Umwandlung Jaffas zur Stadt für Reiche umfasst die Enteignung von Juden und Arabern mit Hauszerstörungen, Umsiedlungen, Ausgrenzungen. Mit viel amerikanischem Geld wird über die eine jüdische Stiftung (Jewish National Council – wie überall im Land ) Grund und Boden gekauft und nun exklusive abgeschlossene Wohnanlagen in attraktiver Lage mit Meeresblick wenn möglich gebaut. Viele in mehreren Wellen (37,48, 67) Vertriebene können nicht zurückkommen und haben alle Anrechte verloren. Einige Rechtsanwälte kämpfen verzweifelt und fast aussichtslos für ihre Mandanten, die enteignet werden und wurden. Allein ihr Bericht kann Bücher füllen. Später habe ich einige dieser entwurzelten Menschen in elenden Flüchtlingslagern getroffen.

In Jaffa gibt es ein jüdisch-palästinensische Jugendzentrum, das mit internationalen Sponsorengeldern eine überzeugende Arbeit macht: Reut Sadaka bringt Jugendliche zusammen, um sich zunächst einmal kennen zu lernen, dann miteinander politisch zu diskutieren und schließlich gemeinsame Aktionen zur Aufklärung in der Gesellschaft zu machen, u.a. auch in Schulen und um sich selbst zu schulen z.B. auch durch Auslandsaufenthalte, Treffen mit Gruppen aus anderen Konfliktregionen wie dem Balkan. "Wenn du mal die Augen aufmachst, gibt es kein zurück mehr", erzählt eine der Koordinatorinnen. (www.reutsadaka.org)

Beduinen in der Negev:
Als Teilnomaden haben sie sich insbesondere nach der Rückgabe des Sinai im Negev angesiedelt (160.000). Etwa die Hälfte davon wurde in den 60er Jahren im Kontext der israelischen Politik der Konzentration der Beduinen (und Judaisierung des Landes) in ärmlichen "Townships" angesiedelt. Dort gibt es nicht nur die höchste Arbeitslosenrate, sondern es fehlen auch Schulen, soziale Einrichtungen. Die andere Hälfte lebt in etwa 45 Dörfern, die vom Staat Israel nicht offiziell anerkannt sind und deshalb als illegale Ansiedlungen betrachtet werden, denen eine Grundversorgung (Wasser, Strom, Telefon, Müllentsorgung) nicht gewährleistet wird und die keine Stimme haben. Schulen, wenn es sie gibt, sind nur umständlich zu erreichen, ebenso katastrophal ist die medizinische Versorgung. Der israelische Staat will sie dort loswerden und hat inzwischen 7 Städte gebaut, um die Beduinen umzusiedeln, aber sie weigern sich unter Inkaufnahme von ständiger Bedrohung durch Evakuierung, Hauszerstörung durch unangekündigten Bulldozereinsatz und existentielle Not. Als eine Schule, die wir besichtigt haben, nach israelischem Recht zu groß geworden ist und eigentlich ein Neubau anstand, hat man in der Mitte der Schule eine Mauer (!) hochgezogen und den theoretisch damit entstandenen beiden Schulen eine andere Nummer zugewiesen, damit hatte man verwaltungstechnisch 2 Schulen geschaffen. Der Negev ist außerdem die Müllhalde Israels. Chemiefabriken mit katastrophalen Emissionen und Atommüllhalden gefährden dramatisch die Gesundheit der Bevölkerung – übrigens natürlich auch der israelischen in großen Städten wie Beet Shaaba. Die Zwangsumsiedlung geht weiter  (zynische Angebote neben eine neue Chemiefabrik liegen auf dem Tisch) und wer wundert sich, dass diese geschundenen Menschen sich radikalisieren (eine militante Islamisierung schreitet fort). Ein kleiner Lichtblick ist die Gruppe engagierter Menschen aus dem "Negev Coexistence Forum for civil equality", in dem sich Grasswurzelorganisationen, engagierte Studenten, in arabisch-jüdischer Kooperation zusammengeschlossen haben um für die Rechte der Beduinen zu streiten (www.dukium.org).

Hebron:
Schon in der Umgebung fallen die schmucken Siedlerhäuschen auf den Hügeln auf. Die Zugangsstraßen zu palästinensischen Dörfern und Äckern sind verrammelt (mit Felsen, Erdhäufen) und wenn das nicht reicht, um die Mobilität zu kappen, dann kommen die Checkpoints. In der palästinensischen Altstadt geht die Vertreibung der ursprünglichen Einwohner voran, denn es geht um "Abrahams Grab". Einige aggressive militante Siedler haben sogar ihre Behausungen auf palästinensische Häuser oben drauf gebaut, oder direkt gegenüber von wo aus sie mit Steinen und Gewehren schießen. Die lebendige Marktstrasse wurde auf militärische Order hin geschlossen, alle Geschäfte sind verrammelt, die Strasse ist wie ausgestorben. Der Zugang zu palästinensischen Häusern ist nur mehr über einen Hintereingang im Garten möglich, vorne ist alles mit Gittern verrammelt und mit Militärposten abgeschirmt. Die Zugangsstrasse ist eine Bypass-oder "Apartheidroad". D.h. sie wird kontrolliert und abgeriegelt von israelischem Militär und ist nur für Siedler zu benutzen. Diese Art von Strassen werden auch über Land zu Siedlungen angelegt und schneiden Gärten und Felder ab. Die Siedler in Hebron schmeißen Dreck und Müll in die Gärten, überfallen die Häuser, drangsalieren und misshandeln palästinensische Familien, Kinder werden auf dem Schulweg von Siedlerkindern und Frauen angeschrieen, geschlagen. Eigentlich sollten die palästinensischen Kinder von Soldaten geschützte werden, aber die kommen entweder nicht oder schauen zu. Siedler stehlen die Oliven, sägen die Weinstöcke in den Gärten ab. Es gibt eine Reihe von internationalen Dokumentationen zu diesen dramatischen absurden Menschenrechtsverletzungen, die aber völlig ohne Wirkung geblieben sind. Es gibt sogar (israelische und internationale) Gerichtsentscheidungen gegen die Siedler, die ohne Wirkung bleiben. 1994 brachten Siedler in der Abrahamsmoschee 35 Menschen um, die Täter sind straffrei geblieben.
Besonders eindrucksvoll ist die Broschüre "breaking the silence" in dem israelische Soldaten über ihren Einsatz in Hebron sprechen.
Hebron ist zweigeteilt in H1 (offiziell unter palästinensischer Hoheit) und H2 (unter "gemischter" Kontrolle, mit totaler Militärpräsenz und einer kleinen internationalen Friedenseinheit TIPH, der nicht viel mehr übrig bleibt, als die schlimmsten Verletzungen zu dokumentieren, ein bisschen Solidarität zu üben und ihre Reports an EU-Länder und die UNO schicken – es fragt sich natürlich mit Recht: wer liest die Berichte und welche Konsequenzen zeiht die internationale Gemeinschaft daraus?). 40.000 Menschen leben in einem Apartheidsystem, tyrannisiert von ca. 200-300 Siedlern in der Stadt und Siedlungen im Umland. In Hebron gibt es keine Spielplätze für Kinder, in den Schulen muss aus Platzmangel im Schichtunterricht gelehrt werden, die Strassen sind in einem katastrophalen Zustand, .

Hebron ist ein extremer Fall, an dem sich viele Probleme Palästinas zuspitzen, aber kein Einzelfall: die Stadt Chalquilia mit 45000 Einwohnern ist inzwischen durch Mauern und Sperranlagen total abgeriegelt mit einem unterirdischen Zugang von den umliegenden palästinensischen Dörfern, der mit einem großen Checkpoint abgeschlossen ist. Der Zugang zum Einkaufen, zum Krankenhaus, zu Schulen ist äußerst schwierig und der Willkür überlassen.
Die Stadt Jatta war früher von Hebron aus in 5 Minuten mit dem Auto zu erreichen, heute braucht man 1 Stunde mit Umfahrungen, wenn man überhaupt durchkommt. Hinter Jatta gibt es eine illegale Atommüll-Deponie – viele Menschen leiden an Krebs, die Fälle sind dokumentiert, aber Papier ist geduldig. An Juden in den umliegenden Siedlungen  und an Beduinen wurden zynischer Weise Jodtabletten verteilt (vor dem Irakkrieg wg. Gefahr Atomschlag). Im Krankenhaus, das 2004 gebaut wurde, kämpft eine Hand voll Ärzte (200 Operationen und 6000 Notfälle im Monat) einen verzweifelten Kampf. Zur Dialyse – wenn der Strom nicht abgeschaltet wird – brauchen die Menschen inzwischen lange Anfahrtswege über die Checkpoints, viele Menschen sind dort schon gestorben – auch schwangere Mütter auf dem Weg zur Geburt, oder sie haben ihre Kinder am Checkpoint geboren). Viele Menschen in der Umgebung leiden an Allergien, Bronchitis, Viren- und Bakterienerkrankungen auf Grund der mangelnden Hygieneumstände und der Umweltbelastungen.

Ramallah-Al Bireh:
In Ramallah sitzt die palästinensische Autonomiebehörde und Abu Mazen. Das heiß aber z.B. nicht, dass alle Abgeordneten dorthin auch normalen Zugang haben. Wenn man wie die Abgeordnete des Legislative Councils Dr. Sahar Qwasmi aus Hebron kommt, dann ist das bereits außerordentlich schwierig. Man erinnert sich natürlich auch noch an die Belagerung und Beschießung von Arafats Residenz durch israelisches Militär. Heute ist Arafat dort begraben, aber der Laserpointer über seinem Grab zielt auf Jerusalem und das Wasserbecken davor verweist darauf, dass alles im Fluss ist.
In Ramallah trifft sich der Palästinensische National Council (eine Art Senat mit wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens; Hanan Awwad ist darin vertreten). Ramallah platzt aus allen Nähten, es hat viele Flüchtlinge aufgenommen (aus Nazareth, Haifa und anderen Städten, wo die Menschen alles aufgegeben haben. Das Leben im Zentrum ist bunt und lebendig, insbesondere seit man nicht mehr nach Jerusalem am Abend fahren kann.
Wir besuchen mit der Stadtverordneten Nahriman Al Far das Rathaus in Al-Bireh (das mit Ramallah zusammengewachsen ist); der Bürgermeister war selbst 5 Jahre in Haft. Das Gemeindegebiet kann nur zu 1/3 genutzt werden, der Rest ist verboten. Eine Ausweitung des Siedlungsgebietes gibt es nicht, auch keine Möglichkeit für ein Industriegebiet oder für landwirtschaftliche Nutzung. Man leidet unter der Besatzung. Viele Familien sind getrennt, Männer und Frauen sitzen in israelischen Gefängnissen oder haben kein Rückkehrrecht.
Wir machen eine Rundfahrt zu den Brennpunkten in und um die Stadt: Unterhalb der Stadt wurde ein mit EU-Geldern finanziertes Schlachthaus (für Schafe) vor 3 Jahren geschlossen und verrottet nun; die Menschen schlachten in ihrer Verzweiflung wieder selbst unter Inkaufnahme vieler gesundheitlicher Risiken. Die Mülldeponie hat nur einen kleinen militärisch kontrollierten Zugang für die Müllwägen, der manchmal 3 Stunden pro Tag offen hat, aber es kann auch vorkommen, dass er ganz geschlossen bleibt. Außerdem muss die Deponie allen Müll der wachsenden Siedlungen im Umfeld aufnehmen, wofür diese aber keine Steuern bezahlen; die kommunalen Steuern werden aber direkt an die israelische Regierung abgeführt und es gibt keinerlei Kompensation. D.h. der Stadtsäckel ist leer, die Strassen und öffentlichen Einrichtungen spiegeln diesen Zustand wieder, die Angestellten werden schlecht bezahlt. Gäbe es nicht reiche Palästinenser im Exil, die etwas investieren würden (z.B. in eine schöne kommunale Bibliothek!) – oder z.B. die FIFA, die ein Fußballstadion angelegt hat, wäre das Desaster noch größer. Im Jahr 200 wurde mit deutschen GTZ-Mitteln eine Abwasserentsorgung gebaut unter der Bedingung von deutscher Seite, dass auch das Siedlerabwasser eingeleitet wird. Dieses nimmt immer mehr zu, so dass die Anlage ausgelastet ist. Das weitgehend geklärte Wasser des letzten Beckens könnte wunderbar über eine Leitung in das darunter liegende palästinensische Dorf geleitet werden, um die Felder zu bewässern. Dies wurde verboten! Und geht somit nur ins Grundwasser, auf das die Israelis ein Monopol haben. Neueste Schikane ist, dass die Siedler Wildschweine einsetzen die den Rand der Stadt unsicher machen und die Feldfrüchte zerstören. Diese dürfen aber nicht abgeschossen oder vergiftet werden, sonst droht ein Vergeltungsschlag. Ein großes kommunales Krankenhaus wurde als Militärstützpunkt enteignet, da es unterhalb einer neuen Siedlung liegt. Die Verbindungsstrasse wurde für öffentlichen Verkehr blockiert, nun braucht man für eine Strecke von 5 Minuten 45 Minuten. Was dies für die Notfallbehandlung für Kommunikation insgesamt bedeutet ist klar.
Der Großvater einer unserer Begleiterinnen aus der Stadtverwaltung hatte ein Weizenfeld und einen Olivengarten, die nicht mehr genutzt werden dürfen, weil sie in der Sperrzone liegen. So schaut man sehnsüchtig und wütend in die Landschaft und eines Tages……??
Am problematischsten und erniedrigendsten jedoch für alle ist die totale Mobilitätseinschränkung, denn mit der Westbank ID kann man inzwischen nicht einmal mehr in das nahe (Ost-)Jerusalem ohne schwer zu erhaltende Sondergenehmigung fahren. Mit der Jerusalem ID kann man mit Schikanen und oft Umwegen nach Ramallah kommen.

Jerusalem:
Verschiedene Stadtteile im Osten Jerusalems mit weitgehend arabischer Bevölkerung wurden in den letzten Jahren annektiert. Das Gefälle aber zu israelischen Städten in der gleichen Lage ist eklatant (Straßenzustand, Häuser, Schulen, Müllabfuhr…). Man zahlt dort Steuern an Israel. Behörden, bekommt aber dafür keinerlei Service.
Ostjerusalem verliert viel an Attraktivität, Handel, Kultur, weil so viele Menschen vom Zugang ausgesperrt sind.
Jüdische Siedlungskerne blockieren die Ränder und weiten sich permanent aus.
In der Altstadt geht alles scheinbar seinen traditionellen Weg, die vielen Überwachungskameras fallen kaum auf bei dem lebhaften Handel und den Touristenströmen, die durchziehen. Die Marktware ist vergleichbar, ob jüdisch, arabisch, armenisch oder christlich. Am Freitag Nachmittag treffen sich fast zeitgleich und auf identischen Pfaden gläubige Muslime und Juden auf dem Weg in ihre jeweiligen Gebetsstätten.
Beim Blick vom Ölberg über alte Olivenbäume und Gräberfelder hinweg zieht der Blick zum Felsendom und der Al Aksha Moschee und hat somit etwas Ewiges – wären da nicht auch die vielen anderen Geschichten und Bilder von Leid, Unterdrückung, Widerstand im Kopf.

Flüchtlingslager:
In Al Amari leben 7000 Personen auf engstem Raum, sie wurden deportiert oder flüchteten. Viele Familien sind bereits seit 1948 da. 45% sind Frauen. Leben im Flüchtlingslager ist ein kollektives Trauma, noch ganz abgesehen von den individuellen Leidensgeschichten. Das Camp hängt total am UNO-Tropf, sonst gäbe es keine Schule kein Gemeindehaus, einfach nichts. Bei mindestens 70% Arbeitslosigkeit u.a. wegen der Absperrungen leben die Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen generationsübergreifend auf sehr beengtem Raum. Viele sind im Gefängnis (30 davon für mehr als 15 Jahre). Ständig gibt es israelische Übergriffe (auch das Gemeindezentrum wurde schon in die Luft gesprengt und wieder aufgebaut), viele Familien haben Menschen verloren, für die Opfer gibt es keine Gerechtigkeit, Täter werden nicht verurteilt – auch wenn sie bekannt sind. Ein Gemeindekommittee kümmert sich um die dringendsten Anliegen, "die alle den Traum zur Rückkehr" aufrecht erhalten sollen. Wie das gehen soll – auch mit einer 2-Staatenlösung ist eine offene Frage. Vielleicht wäre es schon gut, meint der Vorsitzende des Komitees, "wenn man mal eine Fahrt in die alte Heimat (z.B. Jaffa, Haifa…) machen könnte, um den Kindern und Enkeln zu zeigen, wo man herkommt"; so viel einsichtsvolle Bescheidenheit in dieser trostlosen Lage!

Checkpoints:
Die ersten waren die sog. normalen Checkpoints zwischen Israel und den Palästinensergebieten. Inzwischen sind aber in den besetzten Gebieten hunderte von Checkpoints eingerichtet worden, manchmal fix, manchmal mobil. Die Kontrollen sind eine Riesenschikane, nie weiß man wie lange man warten muss oder ob man überhaupt weiter kommt. Sie trennen arabische Dörfer von arabischen Städten, Menschen von ihren Feldern (wenn diese nicht mehr bearbeitet werden , fallen sie lt. israel. Recht an Israel). Die Organisation Machsom Watch, in der viele Ligafrauen ehrenamtlich Dienst tun, kümmert sich darum die schlimmsten Fälle von Willkür und Übergriffen an den Checkpoints zu beobachten, zu dokumentieren und wenn möglich durch Kontakte zu Anwälten und politischen Gremien zu helfen. Mit diesen humanitären Aktionen will man freilich nicht die Besatzung kosmetisch reparieren, denn Machsom Watch will eine politische Organisation sein, die gegen die Besatzung agiert. Die Frauen haben sich großen Respekt bei den Palästinensern verschafft und durch ihren selbstlosen Einsatz für Wut und Unverschämtheiten bis hin zu körperlichen Attacken bei den Israelis gesorgt. Die Checkpoints werden immer mit "Sicherheitsmaßnahmen" gerechtfertigt. Da sie aber manchmal nicht nur zu umgehen sind, bzw. in absurder Weise arab. Dörfer und Städte teilen ist und voneinander trennen und innerhalb des palästinensischen Hoheitsgebietes Freiheiten beschneiden, sind sie ganz offensichtlich ein politisches Instrument, das die Palästinenser insgesamt erniedrigen will und letztlich vertreiben soll.

Die Mauer und die Sperranlagen:
Sie ergänzen die Checkpoints in provozierender Weise. Verurteilt u.a. vom UN-Sicherheitsrat, vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wachsen sie wie ein Krebsgeschwür auf palästinensischem Boden. Seit der Entscheidung der israelischen Regierung im Jahr 2002 ist sie inzwischen über 770 km lang (nur 80 km gehen an der 1949 beschlossenen Waffenstillstandsgrenze der sog. grünen Grenze der Westbank – insgesamt 430 km lang- entlang), sie isoliert 713 km² der Westbank, das sind 12,6%. Die Mauer umschließt mehr als 100 israelischen Siedlungen (bzw. Kolonien) und Außenposten besonders militanter Siedler – die Anzahl wächst ständig - incl. die Siedlungen in Ostjerusalem, was zusätzliche Sperranlagen und Apartheidsroads bedingt und Pufferzonen auf palästinensischer Seite der Mauer, die weder bebaut noch bearbeitet werden dürfen. Außerdem ist das verbleibende palästinensische Territorium in A-B-und C-Zonen eingeteilt (seit Oslo): A unter palästinensischer Autorität, B gemischt, C-israelische Autorität. Unabhängig davon hat aber die israelische Armee grundsätzlich und ohne Begründung Zugang überall und immer, also eine schizophrene Konstruktion.
Palästinensische Dörfer und Städte werden so zu Enklaven (Nablus, Bethlehem, um nur ein paar große zu nennen) und die Bevölkerung in Geiselhaft genommen. Die doppelt so hohe Mauer wie einst in Berlin, die Sperrgebiete und Elektrozäune stehen für totale Zerstörung "biblischer" Landschaften, für erniedrigende Mobilitätseinschränkungen und für alle anderen Schikanen fehlen einem fast die Worte. Und wenn man meint, die grausamen Bilder, die man vor Augen hat, nicht mehr steigern zu können, dann macht man in einem gastfreundlichen palästinensischen Haus direkt am Checkpoint für einen Pfefferminztee halt und hört sie die Geschichten aus dem verzweifelten Alltag der Menschen an (Arbeitslosigkeit, Überlebenskampf, Familientrennungen, Schikanen…). Oder die Familie, deren Haus das letzte vor der neuen israelischen Siedlung mit ihren schmucken Häuschen ist und von diesem von der Mauer getrennt werden sollte. Da diese aber zuviel Schatten warf in die Siedlergärten hat man sie dem palästinensischen Haus in den Garten gestellt, mit der Folge, dass diese nun total von ihrem Dorf getrennt sind, die Kinder zum nächsten Checkpoint laufen müssen oder durch ein Tor im Sicherheitszaun können, um in die Schule zu gehen. Die Familie ist von Grund und Boden getrennt und lebt in der Absurdität eines politischen Wahnsinns!

Wasser und Energie:
85% des Wassers der Westbank gehen nach Israel, die es dann wenn überhaupt wieder nur zu hohen Preisen abgeben. Viele Dörfer sind aber regelrecht vom Wasser (das in der ganzen Region rar ist) abgeschnitten. Dagegen haben Siedlungshäuschen oft Swimmingpools. Abwasser läuft z.T. ungeklärt in die Felder. Viele Dörfer sind vom Strom abgeschnitten, wogegen Siedlungen und Siedlerstrassen flächendeckend beleuchtet sind. Solarenergie kommt nicht zum Einsatz auch bei modernen Häusern; Ökologie ist nun wirklich keine Priorität – bei aller Sonne im Land!
Ein Paradox: Siedler zahlen keine Steuern an die Gemeinden, die sie versorgen mit Wasser und Strom; diese aber zahlen kommunale Steuern an Israel und bekommen nichts zurück!

Was bleibt:
Wenig Optimismus!
Die politische Situation ist äußerst instabil aus allen Seiten. Olmert will trotz vieler Widerstände und geschwächt (z.B. auch Untersuchung über Fehler im Libanonkrieg) an der Regierung festhalten und mimt den Hardliner – insbesondere getrieben durch seine rechts-konservativen Koalitionsparteien. Abu Mazen ist ebenso schwach, insbesondere durch die Auseinandersetzung und Trennung von Hamas/Gazastreifen; der Befreiungsschlag in Gaza hat Hamas wieder aufgewertet trotz des politischen Desasters in Gaza und Verbrechen gegenüber der Bevölkerung. Trotz allem wird sie wohl in Verhandlungen eingebunden werden müssen, oder unter das Dach der PLO gebracht werden?
Die 2-Staatenlösung muss trotz aller Probleme bald kommen! Amerika ist im Wahlkampf, die EU spricht mit gespaltener Zunge. Annapolis hat keine Fortschritte gebracht. Blair spielt eine zu vernachlässigende Rolle UN-Res sind für den Papierkorb. Israel schafft weiter Fakten, aus Palästina gibt es Verzweiflungsschläge.
Es gibt keinen Status Quo, ständig verändert sich etwas und man muss darauf reagieren. Deshalb wird es wohl in der politischen Strategie darauf hinauslaufen, dass es statt politischer Lösungen, nur mehr Prozesse im Konfliktmanagement gibt.
Gutwillige Friedensgruppen, die gutwillig Israels und Palästinenser an einen Tisch bringen wollen, scheitern immer mehr, da es keine gemeinsame Basis oder Ausgangssituation (mehr) gibt. Die Kooperation geht nur mit neuen Projekten (z.B Jugendzeitung, …) oder individualisiert. Man verliert sich zunehmend aus den Augen – auch in der allgemeinen Bevölkerung. Es gibt auf palästinensischer NGO-Seite fast so etwas wie eine Kontaktsperre – um sich nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Dies läuft unter "Gefahr der Normalisierung". Auch für WILPF zeigt sich das, indem man nicht einfach ein gemeinsames Statement mehr schreibt.

Trotzdem ein Mandat, eine Strategie für WILPF-Nahost!?!
Es ist offensichtlich, dass man auf Grund des Leidens der palästinensischen Bevölkerung und der Verbrechen, die den Alltag prägen, politisch aktiv sein muss. Ich halte auch die Versuche der Zusammenarbeit von Israelinnen und Palästinenserinnen für weiterhin sehr wichtig, damit man sich nicht aus den Augen verliert.
Der Kampf gegen die fortdauernde Besatzungspolitik und die Umsetzung der diesbezüglichen UN-Resolutionen ist erklärter Maßen die gemeinsame Basis beider Sektionen. Das drückt sich in der Region, aber auch in den Überzeugungen und der Strategie der Sektionen auf internationaler Ebene und in der langjährigen Politik der Organisation WILPF insgesamt aus durch: abgestimmte politische Forderungen auf allen Ebenen, Demonstrationen, Aktionen vor Ort, Berichte und aktuelle Informationen.

Folgendes wurde auf einem kurzen gemeinsamen Treffen in Ostjerusalem mit 3 palästinensischen und 5 israelischen Vertreterinnen zusätzlich vereinbart:

1. Berichte zur Lage
Die israel. Sektion (bestehend aus Jüdinnen und arab. Israelinnen) hat Berichte zu verschiedenen Brennpunkten gemacht und aktualisiert sie alle paar Monate:
März 2007 zur Diskriminierung palästinensischer Bürger in Israel
Mai 2007 zur Mauer und den Sperranlagen
Juni 2007 zu Gaza
Geplant sind 2 neue Berichte zu: den Beduinensiedlungen in der Negev und zu Hebron.

Die palästinensische Sektion hat viele Berichte geschrieben u.a. zum Leben hinter der Mauer und will nun auch zu Hebron arbeiten.

Diese Berichte können meines Erachtens gut nebeneinander stehen, die Unterschiede in der politischen Ausgangssituation sind damit klar festgehalten, aber auch die konvergierenden Überzeugungen sind eindeutig damit dokumentiert. Alle Berichte sollten auf der Nahostwebseite öffentlich zugängig sein.

2. politische Forderungen:
Was politische Forderungen anbetrifft, hat sich das Fundament der WILPF-Forderungen nicht geändert, die seit den 50er Jahren mit Statements notwendiger Weise immer wieder bestätigt werden. Um jedoch eine Entwicklung aufzunehmen, bzw. Fortschritte oder Rückschritte zu dokumentieren, stellt sich die Frage, ob und wie weit dies gemeinsam zu leisten ist, oder ob man aus den unterschiedlichsten Sichtweisen auf einen Problemhorizont erst im Nachhinein die gemeinsame Schnittmenge herausfiltern kann.
Die angestrebte Erklärung für den Menschenrechtsrat in Genf zur Situation in Gaza ist/könnte dafür ein Meilenstein oder Experimentierfeld sein. Meiner Meinung nach ist es angemessen, das totale Konsensgebot aufzulockern und die gemeinsamen Punkte festzuhalten und auch Dissens aufzunehmen. Dies könnte den politischen Prozess und die Schwierigkeiten für alle internationalen Sektionen transparenter und schlüssiger machen. Dies ist aber noch ein Diskussionspunkt.

3. WILPF int.:
Vor dem nächsten IB-Meeting in Indien sollte ein koordiniertes Nahosttreffen in erreichbarer Nähe und mit ausreichend Zeit stattfinden (Amman, Zypern, Türkei) – davon sind alle Beteiligten überzeugt. Alle Sektionen (auch Libanon) sind aufgefordert, über einen politischen Fokus nachzudenken, der nicht nur eine neue Auflage alter Statements ist (Frauen in der Politik, Perspektiven für die Jugend, Nuklearenergie im Raum…..). Die israelischen und die palästinensische Sektion treffen sich dazu bilateral im Vorfeld etwa in 1 Monat wieder. Eine Vorlage soll bis Mai/Juni erstellt werden.
Auf diesem Treffen des Nahost Komitees (angedacht Ende Oktober 2008) soll dann eine Vorlage für Indien erarbeitet werden, die dort der Gesamtorganisation zur Abstimmung vorgelegt wird.

4. Koordination:
Was bleibt mir als Koordinatorin zu tun?
Der Versuch, Abstimmungen zwischen den Sektionen zu unterstützen,
Statements und Berichte auf die Webseite zu bringen und somit international zugängig zu machen u.a. über den Listserver zu schicken – all das kann aber auch von Genf, bzw. direkt über die Liste gemacht werden.
Insgesamt könnte man die Rolle eher als eine Art Bindeglied der Nahostsektionen in die internationale Organisation betrachten. Ob es sie braucht?

Heidi Meinzolt ist die europäische Koordinatorin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF)