Ein Besuch in Gaza

16.5.2010 - 26.6.2010

Ein Bericht von Peter Voß, Teil 5

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Tag für Tag-Bericht

GazaNoGoKl
Gaza Karten: 'Zerstörungen'; 'no-go'; 'Satelliten': Google Earth oder Google Maps, sonst (28 MB)

Freitag, 21. Mai 2010

Dies war mein letzter ganzer Tag – zu mindestens gab es für mich keinen Grund, dies nicht anzunehmen, denn meine Genehmigung lief am nächsten Tag aus.
Es gab noch eine ganze Reihe von Dingen, die ich gerne unternommen hätte, aber dafür reichte die Zeit nicht. Für diesen letzten Tag plante ich eine Fahrt nach Beit Hanoun. Anschließend wollte ich durch das am stärksten zerstörte Gebiet südlich von Beit Hanoun fahren, das der Ausgangspunkt für den Gaza Freedom March gewesen wäre, und schließlich noch einmal ganz an das andere Ende des Gazastreifens, nach Rafah, weil mir aus irgendeinem Grund die Aufnahmen von der Müllkippe als besonders wichtig erschienen und ich sie wiederholen wollte. Außerdem wollte ich an diesem Tag noch das Flüchtlingslager Jabalia besuchen. Ich wollte auch noch beim UNRWA-Hauptquartier vorbeischauen. Den Besuch dort wollte ich mir aber für den Abreisetag lassen.

Obwohl ich gemerkt hatte, das Panoramaaufnahmen mit der Videokamera problematisch waren, kam ich erst im Laufe des Tages darauf, auch in den Fotomodus umzuschalten oder die andere Kamera zu verwenden, aber auch dann nicht konsistent. Aus Gründen, die zufällig oder auch nicht zufällig gewesen sein mögen, lieferte mein GPS-Systen in der nordöstlichen Ecke des Gazastreifens falsche Daten.

Glücklicherweise stieß ich gerade als ich diesen Teil der Reise auswertete auf das OpenStreetMap-Projekt mit seinen detaillierten Gaza-Karten (siehe dazu auch Pam Bailey, "Project Struggles to Create Gaza City's First "Tourist" Map", Pam Bailey war die Koordinatorin der 'Längerbleiber-'Gruppe beim Gaza Freedom March). Hier ist zwar nicht jede kleine Nebenstraße verzeichnet, die ich abgefahren bin, aber sie hat den ganz entscheidenden Vorteil, dass in ihr viele Unternehmen von der Bäckerei bis zum Industriepark und alle Moscheen markiert sind. Anhand von ein paar Referenzpunkten wie den Moscheen konnte ich in den meisten Fällen ganz gut rückverfolgen, wo ich gefilmt habe. Ich habe diesen Bereich entlang der Al-Karama Straße aus der OpenStreetMap stückchenweise herauskopiert und in den Bericht eingefügt.

An diesem Morgen wachte ich bei Sonnenaufgang (5:45 Uhr) und als ich aus dem Fenster schaute, sah ich zurückkehrende Fischerboote und einige Fischer, die am Strand sehr geschickt ihre Wurfnetze auswarfen. Über den zustand der Fischindustrie in Gaza gibt es widersprüchliche Angaben. In einigen Berichten hört es sich so an als gäbe es praktisch gar keinen Fisch mehr. Nicht ganz so schlimm - wenn auch schlimm genug - liest es sich in einem OCHA-Bericht vom 25.5.2010:

Fischgebiet und Fänge schrumpfen
Seit Januar 2009 wurde der Zugang der Fischer zu den Fischfanggebieten weiter auf 3 nautische Meilen (nm) von der Küste eingeschränkt. Das hat zu einer Abnahme der Fänge und der Einnahmen geführt.

In Gaza ist die wesentliche Einkommensquelle der Fischer der Sardinenfang. Die Sardinenschwärme bleiben jedoch häufig außerhalb der Linie von 3 nautischen Meilen und die Fangquote hat dadurch auf 72 % abgenommen [25, Agrarministerium, Fischereiabteilung, 2009]  Ausgewachsener Fisch befindet sich meist außerhalb der 3 nm-Zone und deshalb führt das Fischen innerhalb dieser Begrenzung zu einer Abnahme der nachwachsenden Fischgeneration mit erheblichen Auswirkungen auf den Lebenszyklus der Fische und die längerfristigen Aussichten der Fischindustrie. (Vor der Operation 'Gegossenes Blei' lag die Fischereizone bei 6 – 9 nm, bei 12 nm entsprechend den Bertini-Verpflichtungen und bei 20 nm entsprechend dem Oslo-Abkommen.) Zwischen 2008 und 2009 nahm der Gesamtfang um 47 % ab und er ist nicht ausreichend, um den Bedarf der schnell wachsenden Bevölkerung zu decken. [26, nach Angaben der Weltbank werden 20.000 Tonnen benötigt (Palestinian Economic Prospects: Gaza Recovery and West Bank Revival. 8 Jun 2009)]. Um diese Lücke zu füllen, werden von Händlern begrenzte Mengen von eingefrorenem oder frischem Fisch aus Israel und durch die Tunnel an der Gaza-Ägypten-Grenze importiert. [27, aus Israel kamen 2009 127 Tonnen frischer Fisch (Paltrade)]. Es gibt auch Berichte über Fischer, die illegal in ägyptische Gewässer fahren und dort fischen oder Fisch von ägyptischen Fischern einkaufen. Außerdem sind eine kleine Anzahl von Hinterhof-Aquakultur-Projekten (Fischfarmen) durch humanitäre Hilfsorganisationen angestoßen worden, um die Einkommensmöglichkeiten zu schützen und den Proteingehalt der unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgten (food-insecure) Bevölkerung Gazas zu verbessern. Solche Aktivitäten sind jedoch ein schwacher Ersatz für die Möglichkeit der Gaza-Fischer, frischen nahrhaften Fisch für die Bevölkerung Gazas und für ihren eigenen Unterhalt bereitzustellen, und die Zukunft dieses lebenswichtigen Sektors ist gefährlich unterminiert."

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Auf dem ersten Foto sind im Hintergrund einige LKWs und ein Kran zu sehen. Hier lief eine Aktivität in Vorbereitung des Eintreffens der Free Gaza-Flotille. Ich habe mir das später etwas genauer angesehen (Teil 6).

Nach dem Frühstück lief ich zum Hafen hinüber und schaute mich im Eingangsbereich etwas um. Ich bin noch nicht in sehr oft Fischereihäfen gewesen, aber dieser hier zeichnete sich dadurch aus, dass es kaum nach Fisch roch.
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Weil es ein Wochenendtag war, gab es in der Frühe vor dem Hotel wenig Verkehr und ich ließ mir deshalb ein Taxi bestellen.
In Hinblick auf die Taxipreise hatte es für mich einige Konfusion gegeben, weil verschiedene Leute mir erzählt hatten, "zahl nicht mehr als dies" oder "zahl nicht mehr als das", was dazu geführt hat, dass ich anfangs Fahrten abgelehnt habe, die für mich günstig gewesen wären. Diese gut gemeinten Ratschläge bezogen sich offensichtlich nur auf innerstädtische Fahrten und auf Fahrten mit Sammeltaxis, die extrem billig waren. Längere Fahrten, wie ich sie unternahm, kosteten einiges mehr, waren aber immer noch keineswegs teuer (in der Größenordnung von € 20).

Destr1_4Wir fuhren nach Norden in
Richtung Beit Hanoun.
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(1)

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(2) Getreidefeld

In Beit Hanoun fuhren wir bis an das Ende der Straße, die in Richtung 'Osten' aus dem Ort herausführte. Ich hatte an diesem Tag mein einbeiniges Stativ mitgenommen und versprach mir dadurch eine ruhigere Kameraführung. Sie mag schon ruhiger gewesen sein, aber nicht unbedingt besser.
Vielleicht hat mich die Gegend beunruhigt. Die unten wiedergegebenen zusammengesetzten Panoramas wurden als Schwenk von 'Ost' nach 'Nord' aufgenommen, zuerst mit starker Vergrößerung (Fesselballon), dann Normalvergrößerung, dann wieder Übergang auf hohe Vergrößerung und Schwenk und erst am Schluß wieder normal.
Dadurch ging bei diesem Schwenk ein Großteil des vermutlich nicht uninteressanten Vordergrunds verloren. Immerhin bekommt man wohl noch eine Vorstellung wie diese Gegend aussieht. Ich hatte sie weniger hügelig erwartet.
Weil dies der Zipfel Gazas ist, der den israelischen Siedlungen am nächsten liegt, war er ein bevorzugtes Gebiet für den Abschuß der Kassam-Raketen, die ja nur eine geringe Reichweite haben. Dementsprechend hat dieses Gebiet schon im Laufe der vergangenen Jahre viele israelische Angriffe und viel Zerstörung erlebt.

Der Fesselballon, der im unteren Panorama und in den Fotos darunter zu sehen ist, trägt ein Radarwarnsystem. Es überwacht die Gegend auf in Richtung Israel fliegende Raketen. Aus den erfassten Daten wird die Flugbahn berechnet und dann in dem Gebiet, in dem die Rakete landen wird, ein Alarm ausgelöst. Bei den Kassam-Raketen vergehen zwischen dem Auslösen des Alarms und dem Einschlag etwa 15 Sekunden.

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Panorama mit hoher Vergrößerung und Schwenk von 'Norden' nach 'Osten'
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Schwächer vergrößertes Panorama. Anschluß an den höher vergrößerten Streifen.
Der Fesselballon ist rechts von der Palme zu erkennen.

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Fesselballon mit Radarwarnanlage

OSMAlKarama
OpenStreetMap mit Salah El-Deen Straße und Al-Karama Straße

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(3) Blick zurück auf Beit Hanoun

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(4) Durchfahrt durch Beit Hanoun

Hinter Beit Hanoun ging es nach 'Süden'. Ich wollte die Bilder von der Müllkippe wiederholen. Dies war ungefähr die längste Strecke, die man im Gazastreifen zurücklegen kann.

Als wir die Al-Karama Straße entlang fuhren, war zu erkennen, dass der Boden hier nicht aus reinem Sand bestand wie näher an der Küste. Wenn man sich die OpenStreetMap näher anschaut, erkennt man, dass  entlang dieser Straße einiges an Industrie und landwirtschaftlicher Aktivität konzentriert ist (oder war). Was die Zerstörungen angeht, liest man ab Seite 97 im UNDP-Bericht "One Year after":

"Zerstörungen
Über 46% der landwirtschaftlichen Fläche des Gazastreifens wurden zerstört oder wurden unzugänglich als Ergebnis von 'Gegossenes Blei', besonders weil die Pufferzone entlang der Mauer erweitert wurde, eine Einschränkung, die weiterhin militärisch durchgesetzt wird. [ref. 5] Ungefähr 16 % [1986 ha] – 17 % der landwirtschaftlichen Fläche wurde schwer beschädigt durch Bombardierung, durch die Fahrten militärischer Fahrzeuge und durch Planierungen sowie durch willkürliche Aktionen, darin 17,5% der Obstgärten mit ausgewachsenen Bäumen und 9,2% der offenen Felder [Landwirtschaftsuntersuchung durch UNDP/PAPP ...]. Darüberhinaus wurden 4000 Kühe, Schafe und Ziegen und eine Millionen Vögel und Hühner (Hähnchen und Legehühner) während 'Gegossenes Blei' getötet, wobei es Hinweise gibt, dass das Vieh direktes Ziel von israelischem Maschinengewehrfeuer war [ref 8]."

und in Bezug auf die Industrie und den Handel:

"Zerstörungen
Vor und nach 'Gegossenes Blei' hat die Schließung der Grenzen den industriellen Sektor erheblich betroffen. Kurz nach Juni 2007 wurden 3750 industrielle Unternehmen, das sind 90 % der Gesamtindustrie, geschlossen und 33.000 Arbeiter, entsprechend 94% der in diesem Sektor Beschäftigten, entlassen.[Privatsektor Koordinationsrat ... ]
...
Die Hauptschäden durch die Offensive waren die Zerstörung der wesentlichen Produktionsmittel 'Gebäude und Ausrüstung', die 94 % des Gesamtschadens ausmachten. Zerstörte Güter machten nur einen kleinen Prozentsatz, 6%, des Gesamtschadens aus. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Produktionseinrichtungen ohnehin schon geschlossen waren, keine Fertigwaren vorhanden waren und vor 'Gegossenes Blei' keine Rohmaterialien und Konstruktionsgüter nach Gaza hineingelassen wurden. ..."

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(3) Israelisches Grafitti

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(3) direkt neben dem Grafitti
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(4) Wenn dieses Panorama etwas schärfer ausgefallen wäre, könnte man im Hintergrund wahrscheinlich den Karni-Übergang erkennen. Ich war mir dessen nicht bewußt als ich diese Sequenz filmte. Wieviele Kugeln es wohl braucht, um all die Schäden an diesen Hallen anzurichten?

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Nahe (4): Panorama des unteren Endes von Gaza Stadt (zusammengesetzt aus mit der Videokamera aufgenommenen Einzelfotos)

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Südlich des An Nuseirat-Lagers, mehr Bäume an der östlichen Durchfahrt durch Khan Yunis.

Als wir nach Rafah hineinfuhren war es genau 12 Uhr mittags. Es war kaum ein Schatten zu sehen, an dem wir uns hätten orientieren können.
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Diese Fotos hatten eine gewisse Bedeutung für den weiteren Verlauf der Dinge. Sie zeigen aber in ersten Linie eine der Straßen, bei der Sinterblöcke als Straßenpflaster verwendet wurden (siehe Interview mit Prof. Jendia).

Als die Straße in einer Einmündung endete, haben wir es immer irgendwie geschafft aus der Stadt herauszufahren, nur leider nicht in der gewünschten Richtung. Ich hätte nicht gedacht, dass es schwierig sein könnte, in die Nähe der Grenze zu gelangen. Aber das war offensichtlich der Fall. Wir landeten auf engen sandigen Wegen, wo wir Gelegenheit hatten, an einigen ziemlich armseligen Wohnquartieren vorbeizufahren. Schließlich tauchte ein Kontrollpunkt auf. Die Polizisten dort hatten aber anscheinend auch noch nie eine Karte gesehen und konnten uns nicht helfen. 

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Schließlich hielt ich ein entgegenkommendes Taxi an, dessen Fahrer ich fragen konnte, ob er den Weg zur Grenze kenne. Das Taxi fuhr in die richtige Richtung. Wir konnten ihm folgen. Ich konnte mich entspannen und ein wenig filmen.
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(5, s.u.) Wie ich später feststellte, sehen diese Fotos ziemlich vertraut aus. Sie wurden ziemlich genau eine Stunde nach den obigen aufgenommen.

Anhand von einigen Straßen- und Häusermerkmalen habe ich aus dem Satellitenbild rekonstruieren können wo wir uns bewegt haben.
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Wir folgten dem Taxi eine ganze Weile. Dann hielt es an und der Fahrer bedeutete uns, dass wir links abbiegen müßten. Wir bogen also ab und befanden uns kurz darauf ganz offensichtlich an der Grenze. Ich wurde gewahr, dass ich hier ein Abenteuer erlebte, auf das ich nicht vorbereitet war. Im Nachhinein vermute ich, dass es absolut ungefährlich war, denn es waren die Tunnelbauer, die mich beunruhigten und nicht etwa mögliche israelische Angriffe. Jedenfalls fühlte ich mich nicht sehr wohl, vielleicht auch gerade deshalb, weil keine Menschenseele zu sehen war (Wochenende). Es tauchte dann aber bald ein Junge auf einem Motorrad auf, der offenbar willens war, uns den ganzen Tunnelkomplex zu zeigen. Er fuhr voran und wir folgten. Ich traute mich kaum zu filmen und hatte dadurch aber Gelegenheit, in Ruhe auf eine Rampe zu schauen, die offenbar zu einem unter uns gelegenen Tunneleingang führte.

Auf Satellitenaufnahmen, die die UN veröffentlicht hat (grün umrandeter Bereich, s. Extraseite), ist zu erkennen, daß diese Tunnel während der Operation 'Gegossenes Blei' so heftig bombardiert wurden, dass von den Zelten über den Tunneleingängen nichts übrig blieb.

Wir haben dem Jungen ziemlich bald angedeutet, dass wir das Gebiet verlassen wollten, und er hat auch mitbekommen, dass ich in Richtung Küste weiterfahren wollte. Also hat er uns hinausgeleitet.

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(6) ImTunnelbereich
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(7) Beim Verlassen des Bereichs
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(8, untere Reihe)

Wie in meinem Bericht über den 20. Mai erwähnt, wiederholte ich an der Müllkippe die Filmerei und machte auch eine Serie von Panoramafotos.

Wir fuhren parallel zur Küste am Gebiet der früheren Siedlungen vorbei. Ich filmte dort während wir vorbeifuhren.
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Wir kamen an der Küstenseite des Deir Al Balah Flüchtlingslagers vorbei. Die Lichtverhältnisse waren an diesem Nachmittag so gut, dass sogar die Videoeinzelbilder recht ordentlich herauskamen.
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Ein Blick hinunter von der Brücke auf Wadi Gaza (anscheinend mehr oder minder Abwasser)

Wie schon erwähnt, wollte ich an diesem Tag noch das Jabalia Flüchtlingslager besuchen. Zu dieser Tageszeit war es nicht weiter schwierig, am Hotel jemand zu finden, der bereit war, mich dorthin zu fahren. Als einziges Problem stellte sich heraus, dass der Fahrer leider nicht wußte wo genau das Flüchtlingslager war. Also hat er sich durchgefragt. Ich meinte ihm helfen zu können, indem ich auf zwei UN-Krankenhäuser auf meiner Karte hinwies. Ich wußte zu dem Zeitpunkt nicht, dass die UN nur Kliniken hat. Deshalb fiel mir nichts auf als ich an einem Krankenhaus abgesetzt wurde. Ich wunderte mich nur darüber wie ordentlich die Gegend aussah. Anhand der GPS-Daten konnte ich dann später feststellen, dass ich nur einen Häuserblock vom Lager entfernt war.

Aber ich habe immerhin zwei Sequenzen von Videoaufnahmen von einer der 'nord-südlich' verlaufenden Hauptstraßen Gazas, der Al Jalaa Straße, bei der Hin- und Rückfahrt.
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Al Jalaa Straße Hinfahrt
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Al Jalaa Straße Rückfahrt

Ich traf gegen 17 Uhr wieder am Hotel ein. Beim Blick aus dem Fenster konnte ich merken, dass es ein Wochenendtag war, denn es waren viel mehr Menschen als sonst am Strand.
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Weil es meine letzte Gelegenheit war, holte ich mein Fahrrad heraus und machte mich in 'nördlicher' Richtung auf den Weg am Flüchtlingslager vorbei. Jedenfalls war das meine Absicht, aber zunächst hatte ich nicht mit den Jungen entlang meiner Strecke gerechnet. Ich war – womit ich schon gerechnet hatte – wohl ein etwas ungewöhnlicher Anblick. Aber einer der Jungen wollte mich etwas genauer ansehen und ergriff meinen Arm während ich an ihm vorbei fuhr. Ich fuhr nicht sehr schnell und war auch nicht in Gefahr zu stürzen, aber sehr lustig fand ich es nicht. Weitere Jungen kamen hinzu, von denen sich einige sehr für mein Fahrrad zu interessieren schienen. Es war schwer von ihnen wegzukommen, und ich mußte einen jungen Mann bitten, mir zu helfen.
Dies ist vielleicht die richtige Stelle, noch einmal einen Abschnitt aus dem UNDP-Bericht "One year after" zu zitieren, der sich damit beschäftigt, was die Blockade und die Operation 'Gegossenes Blei' mit den Kindern angerichtet hat und welche pscho-sozialen Bedürfnisse daraus entstanden sind:

"Besonders die Kinder wurden sehr stark durch das psychologische Trauma der militärischen Operationen betroffen. Im März 2009 wurde eine Studie durchgeführt, um den Zusammenhang zwischen den durch 'Gegossenes Blei' hervorgerufenen traumatischen Kriegserlebnissen, der Trauer und Posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) unter den Kindern in Gaza zu bewerten. Der Befund im Hinblick auf das pschychologische Wohl der palästinensischen Kinder in der Nachwirkung von 'Gegossenes Blei' anhand des Children’s Post Traumatic Stress Reaction Index (CPTSD-RI, Reaktion nach traumatischen Stress) war:
1. 1,3% der Kinder zeigten kein PTSD;
2. 7,2% zeigten milde Reaktionen;
3. 29,9% zeigten mäßige Reaktionen; und
4. 61,5% zeigte starke bis sehr starke PTSD-Reaktionen."

Für jemand wie mich, der sich in der Materie überhaupt nicht auskennt, ist aber schwer zu beurteilen, ob das ziemlich wilde Verhalten der Jungen damit überhaupt einen Zusammenhang hat, denn es stand in ziemlich krassem Verhältnis zum Verhalten der Mädchen, die ja in gleicher Weise betroffen waren, aber häufig sehr zurückhaltend waren.

Um ein paar Fotos zu machen, hatte ich die Einstellung der Kamera geändert und sie nicht wieder zurückgestellt. deshalb haben die folgenden Video-Einzelbilder eine noch geringere Auflösung.
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An diesem Küstenstück gab es keinen Sandstrand. Hier befanden sich mehrere Abwasserausflüsse.
Die Sicht war an diesem Abend sehr gut. Das Kraftwerk und die Häuser von Aschkelon waren gut zu sehen.
(volle Auflösung).

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Der Kontrast zwischen den Gebäuden im Lager und den angrenzenden Gebäuden außerhalb
war nach allen Seiten hin teilweise beachtlich.

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Auf dem Rückweg wollte ich den Jungen am Strand aus dem Weg gehen und fuhr deshalb auf einer Parallelstraße durch das Lager. Die eigentliche Straße war zwar verhältnismäßig breit, aber die Seitengassen ähnelten denen wie ich sie in Flüchtlingslagern in Bethlehem und im Libanon gesehen habe.
Am Rand der Straße befand sich in einiger Entfernung von mir eine Gruppe von Mädchen. In der Annahme, dass sie mich nicht bemerkt hätten, begann ich sie zu filmen. Ich war aber wohl zu auffällig und es dauerte nicht lange bis das älteste Mädchen sich wegdrehte. Das war eine Erfahrung, die ich an anderer Stelle auch schon gemacht hatte; während die Jungen sich drängten, um ins Bild zu kommen, lehnten die Mädchen es eher ab fotografiert zu werden.

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An zwei Abenden herrschte bei Sonnenuntergang eine gute Sicht und ich bemerkte weit draußen in der See ein stationäres Objekt.
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Das erste Bild ist  mit der stärksten Vergrößerung (10x) aufgenommen, das zweite ist ein Ausschnitt daraus.

Im Hotel konnte mir niemand sagen um was genau es sich handelte. Wahrscheinlich ist es eine Öl- oder Gasbohrinsel. Vom Winkel und von der Entfernung her zu urteilen, befand sie sich vermutlich vor der israelischen Küste.
Vor der Küste von Gaza bis hoch nach Syrien gibt es offenbar ausgedehnte Gasfelder mit erheblichem Volumen, die auf israelischer Seite schon ausgebeutet werden. Aus einer Karte, die bei GlobalResearch veröffentlicht wurde, schließe ich, dass die Insel in obigem Foto sich in einer Entfernung von etwa 40 km befand.
Foto der israelischen 'Dalit'-Bohrinsel.

Der nächste Tag war der Tag der Rückkehr nach Ägypten. Der Rafah-Übergang war am Mittwoch wieder offiziell geschlossen worden. Ich wußte aber, dass dies nicht eine Totalschließung bedeutete.

Fortsetzung in Teil 6      Zurück zur Eingangsseite