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Mein dritter Besuch in Gaza
21. April bis 3. Mai 2012 Peter Voß Gazakarten : 'OpenStreetMap', 'Zerstörungen'; 'no-go'; 'Satelliten': Google Earth oder Google Maps, sonst (28 MB) Mein letzter Tag
und Ergänzungen
In diesem Jahr wirkte sich der Aufenthalt in Gaza wieder auf meine
Gesundheit
aus. Ich entwickelte eine Art Bronchitis, der wohl ein Asthma
zugrunde lag. Es wirkte sich auch auf meinen Appetit aus. Ich
fühlte mich zunehmend unwohl und das Sprechen fiel mir
schwer. Weil die letzten vorgesehenen Tage in ein Wochenende fielen,
beschloss ich meinen Aufenthalt drei Tage früher zu beenden,
d.h.
auf 10 Tage zu verkürzen. Zelte der Gefangenen Am letzten Tag gab es noch einige Besuche und Abschiedstelefonate. Am Nachmittag ging ich hinüber zum Platz des unbekannten Soldaten, wo wir im letzten Jahr einer Kundgebung beigewohnt hatten. In diesem Jahr waren dort die 'Zelte der Gefangenen' aufgebaut, Zelte mit Männern und Frauen, die in Solidarität mit den Hungerstreikenden in israelischen Gefängnissen fasteten. Ich traf mich dort mit Shahd, zweier ihrer Schwestern und einem ihrer Brüder. Ich hatte Shahd erst in diesem Jahr richtig kennengelernt, obwohl sie schon im letzten Jahr meine Betreuerin oder besser Aufpasserin bei der Demonstration war. Ich erwähne Shad hier namentlich, weil sie unter ihrem vollen Namen einen Blog betreibt (http://palestinefrommyeyes.wordpress.com). Obwohl sie noch sehr jung ist, hat sie einiges aus eigenem Erleben zu berichten, und über ihren Blog erfuhr ich, dass ihr Vater, den ich ebenso wie ihre Mutter einige Tage zuvor kennengelernt hatte, vor 27 Jahren bei einem Gefangenenaustausch befreit wurde. Er hatte bereits 15 Jahre einer siebenmal lebenslänglichen Strafe abgesessen. Es ist merkwürdiges Gefühl für mich, wenn ich bedenke, dass all diese wohlgeratenen Kinder, die ich kennengelernt habe, ihre Existenz einem solchen Ereignis verdanken. Am Platz des unbekannten Soldaten waren mehrere Zelte aufgestellt, ein größeres, in dem die aus Solidarität fastenden Männer übernachteten und ein kleineres, in dem sich die fastenden Frauen tagsüber aufhielten. Dazwischen etliche Plakatwände. Plakatwand und Frauen im Frauenzelt. Die fastenden Frauen trugen weiße Mützen. Ein Interview mit Hana Schalabi. Vor ihr Samach, die vor einem Jahr mit der Gruppe "Gaza Youth Breaks Out (GYBO)" bekannt geworden ist. Am 30.3.12 gab es bei ARTE eine Sendung über Hana Schalabi mit dem folgenden Einführungstext: "Ende der
Haft
für Hana Schalabi?
Nach 44 Tagen Hungerstreiks in israelischer Haft soll die palästinensische Gefangene Hana Schalabi in den Gazastreifen entlassen werden. Administrativhaft Ihr Fall hat internationales Aufsehen erregt: Schalabi ist Aktivistin der militanten Palästinenserorganisation Islamischer Dschihad und war erst im Oktober im Rahmen des großen Gefangenenaustauschs zwischen Israel und der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas freigekommen. Am 16. Februar war sie jedoch erneut in Verwaltungs- oder Administrativhaft genommen worden. Es ist ein Mittel, das Israel einsetzt, um Verdächtige ohne Begründung und ohne Anklage unbegrenzt einzusperren. Symbolfigur Schalabi Jetzt habe die 30-Jährige aus einem Dorf im Westjordanland stammende Shalabi eingewilligt, in den Gazastreifen entlassen zu werden. Sie nehme auch wieder Nahrung zu sich, teilten die israelischen Behörden mit. Menschenrechtsgruppen hatten ihren Zustand zuletzt als lebensbedrohlich eingeschätzt. Israel hat schon in der Vergangenheit Palästinenser aus dem Westjordanland nach Gaza deportiert (einige auch ins Ausland), z.B. die Verteidiger der Geburtskirche während der zweiten Intifada. Sie sollten nach einigen Jahren zurückkehren dürfen. Diese Zusage wurde aber von Israel nicht eingehalten. Am Männerzelt traf ich Shahd und ihre Geschwister. Shahd stellte mir einen der beim Gefangenenaustausch freigelassen Gefangenen vor. Er hat 24 Jahre in israelischer Gefangenschaft verbracht. Ich habe nicht versucht, mich mit ihm zu unterhalten. Wir kamen sowieso etwas vom Thema ab, weil ich erwähnte, dass beim zweiten Teil des Austausches viele Hoffnungen enttäuscht wurden, weil die Israelis zum Teil statt politischer Gefangener Kriminelle freigelassen haben, die ohnehin keine lange Strafe mehr zu verbüßen hatten (Die Familie des Bauern in Salfit, bei dem ich Im Jahr 2004 das erste Mal bei der Olivenernte geholfen hatte, hatte sich vergeblich Hoffnungen gemacht, dass einer ihrer Söhne freikommen würde. Er war als 21-jähriger Polizist wegen der Weitergabe seines Gewehrs zu dreimal lebenslänglich verurteilt worden). Shahd war sichtlich irritiert über das, was ich gesagt hatte, und nahm Rücksprache bei dem Freigelassenen, der ihr versicherte, dass es alles nur politische Gefangene waren. Auf dem linken Bild war Shahd gerade dabei, mir das in die Kamera hinein noch einmal deutlich zu machen. Ein fastender Mann, der unser Gespräch mit angehört hatte, mischte sich ein und erläuterte Shahd, das an meiner Geschichte wohl doch was Wahres war. Wir haben dann noch eine Weile diskutiert. Es war für Shahd offenbar nicht so einfach zu akzeptieren, dass es bei diesem Aspekt des Themas nicht so sehr um palästinensisches Heldentum sondern um die hinterhältige Trickserei der Besatzungsmacht ging. Alle Welt hat mitbekommen, was sich da abgespielt hat. Am nächsten Morgen fuhr ich früh am Morgen mit dem Taxi durch die menschenleeren Straßen von Gaza Stadt in Richtung Rafah. An der Salah Al Deen Straße grüßte zum Abschied der Willkommensbogen von Khan Younis. Ergänzungen
Was treibt palästinensische Jugendliche bei Demonstrationen in das Scharfschützenfeuer? Im Jahr 2011 verbrachte ich mit der italienischen Besuchergruppe Vik2Gaza ziemlich viel Zeit im 'Galerie'-Gartenrestaurant. Nach Eintritt der Dunkelheit gab es dort an manchen Abenden Konzerte und Filmvorführungen. An einem der Abende wurde ein Film über die Nakba gezeigt. Wenn ich mich recht erinnere, kamen im wesentlichen Zeitzeugen zu Wort. Der Film hatte keine Untertitel. Mit Hilfe eines Übersetzers wurde ich von den beiden Produzenten des Films gefragt, ob ich Interesse an diesem Film hätte. Ich sagte ihnen, dass dies nicht der Fall wäre, weil ich glaubte, das das Interesse an einem solchen Film in Deutschland nicht sehr groß sein würde. Spontan fiel mir aber ein anderes Thema ein. Ich fragte sie, ob sie einen Film zustande bringen würden, der die Hintergründe der gerade am 15. Mai stattgefundenen Demonstration beleuchten würde. Es waren dabei etwa 60 Demonstranten von den Israelis angeschossen worden und zwei wurden erschossen - so weit ich sehen konnte, alles Jugendliche. Wie kam es, dass niemand die Jugendlichen gehindert hat? Welche Rolle spielten dabei die Eltern, in erster Linie wohl die Väter? Wie reagierte die palästinensische Polizei? Was trieb die Jugendlichen, sich in eine solche Gefahr zu begeben? Es schien möglich zu sein, einen solchen Film zusammenzustellen. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland zeigte sich aber sehr schnell, dass es sehr schwierig war, auch nur mit dem Übersetzer einen Kontakt aufrecht zu erhalten, und mit den Filmleuten kam nie eine Verbindung zustande. Bei meinem jetzigen Besuch hatte ich das Thema zu den Akten gelegt und habe nicht versucht noch einmal einen Kontakt herzustellen. Als ich in diesem Jahr zurückgekehrt war, durchsuchte ich im Internet aktuelle ISM-Berichte (International Solidarity Movement) und stieß auf einen unter dem Pseudonym Johnny Bravo geschriebenen Bericht, der genau meine Fragen beantworte. Ich wußte vorher nicht, dass Johnny ein Pseudonym war. Er wohnte während eines Teils meines Aufenthalts in Gaza im gleichen Haus wie ich, und wir haben öfter zusammen mit anderen ISM-Mitarbeitern die Abende in verschieden Restaurants verbracht. In der gleichen Wohnung wohnte auch Nathan Stuckey, ein ISM-Veteran, dem ich schon ein Jahr zuvor begegnet war, und der damals bei dem Marsch auf Erez in vorderster Linie mitmarschiert ist. Er war einige Zeit zuvor schon von einer israelischen Kugel schwer verletzt worden. Während meines diesjährigen Aufenthalts begleiteten die ISM-Leute Bauern auf die Felder nahe der Todeszone. Johnny erzählte, das kaum ein Tag verging, an denen ihnen nicht die Kugeln um die Ohren pfiffen. Es waren Schüsse, die offensichtlich darauf gerichtet waren, sie von dort zu vertreiben. Ich habe seinen Artikel über eine in diesem Jahr stattgefundene Demo nach Erez, bei der es einen Toten gab, übersetzt (Originaltext, deutsch, Bilder dazu). Nassers Haus Am 16.7.2010 berichtete der Guardian unter der Überschrift "Mother of five killed by Israeli artillery fire close to Gaza buffer zone" (Mutter von fünf Kindern durch israelisches Artilleriefeuer nahe der Gaza-Pufferzone getötet) über einen israelischen Angriff auf ein Haus nahe dem Todesstreifen am 13.7.10. Die Mutter starb durch Pfeilmunition (Flechettes), die von einem Panzer verschossen wurde, als sie während des Beschusses versuchte, ihr zweijähriges Kind aus der Feuerzone zu retten. Wie die Zeitung berichtet, erfolgte der Beschuss in der abendlichen Dunkelheit aus heiterem Himmel. Es wurden aus der Gegend keine Raketen abgefeuert. Die ganze Hausseite war mit Pfeilen gespickt. Es wurden auch einige Familienmitglieder verletzt. Die restliche Familie zog in Zelte hinter dem Haus und benutzte das Haus nur tagsüber. Am 28.4.2011 wurde das Haus dann mit Granaten beschossen, die einen Teil des Obergeschosses völlig zerstörten. Wie durch ein Wunder überlebten die Kinder, die sich in einem unmittelbar angrenzenden Teil des Obergeschosses aufhielten. In den Berichten wurde als Ort des Geschehens Johr ad Dik oder Juhr ad Dik angegeben, ein Ort etwa auf der Mitte des Gazastreifens, der während des israelischen Angriffs zum Jahreswechsel 2008/2009 weitgehend zerstört worden war. Es war für mich nicht klar, wie der spätere Beschuß des Hauses der Familie Nasser in diesen Zusammenhang einzuordnen war. Wie sich zeigte, war den ISM-Helfern die Familie gut bekannt. Mit ihrer Hilfe hätte ich die Familie auch besuchen können. Ich begnügte mich aber damit, mir den Weg dorthin von Hussein, einem der lokalen ISM-Unterstützer, erklären zu lassen. Mit Hussein wurde am 30.1.2012 ein Video mit einem Nasser-Interview veröffentlicht (Gaza strip: life and death in the "buffer zone"). Zu Nassers Familie und zu seinem Haus ergab sich für mich folgendes Bild: Auf der Satellitenaufnahme von 2007 ist das Haus weiß eingekreist. Es liegt etwa 350 m entfernt von der Waffenstillstandslinie, mit wenigen anderen Häusern in der Nähe. Der rote Punkt markiert die Stelle, von der aus ich 2010 'östlich' von Al-Burej den Todesstreifen gefilmt habe. Der Bogen am linken Rand ist das Wadi. Das erste Bild ist einem Bericht von OCHA entnommen. Es zeigt das mit Flechette-Einschlägen übersäte Haus im August 2010. Den Zustand des Hauses im April 2011 zeigt das Titelbild des UN-'Monthly Humanitarian Monitor' des gleichen Monats, das dritte Bild eine Nahaufnahme der in der Hauswand steckenden Pfeile (Vera Macht, Zu Besuch bei Nasser). Die folgenden Bilder (ich finde die Quelle nicht mehr) zeigen die Landschaft, das Haus in ungefähr dem jetzigen Zustand, Nasser mit seiner neuen Frau und seinen Kindern und die Zeltunterkunft. Die Familie hat neuen Nachwuchs. Sie haben von der UN etwas Geld bekommen, offenbar nicht für die Reparatur des oberen Stockwerks sondern für einen kleinen Neubau (s. Video). Kurz über lang werden sie wohl in den Ersatzbau ziehen. In der Nacht werden sie auf die Gewehrsalven und auf den Geschützdonner lauschen und beten. Wenn sie Glück haben, werden die Kinder gesund aufwachsen und irgendwann ihrer Wege gehen. Kann man es für sie hoffen? zurück zu Teil 1
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